Berlin, 22.04. 2021 | Das Energiesystem Deutschlands kann bis 2035 nahezu CO2-emissionsfrei werden. Der dazu erforderliche Um- und Ausbau der Energieversorgung ist schon jetzt technisch möglich, finanziell machbar und sozialverträglich umsetzbar. In einem neuen Diskussionsbeitrag zeigen die Scientists for Future (S4F) auf, dass die Haupthemmnisse für die Energiewende nicht in der mangelnden Finanzierbarkeit oder technologischen Umsetzung liegen, sondern großteils strukturell bedingt sind.
Zunächst die Zahlen: um die Ziele des Pariser Klimaabkommens zu erreichen, ist in Deutschland ein zusätzlicher und ambitionierter Ausbau vor allem für die Photovoltaik (PV) und die Windkraft erforderlich. Nach Abschätzungen der S4F sind für den Ausbau 150 Gigawatt (GW) Windenergie und 350 GW PV als Zwischenziel bis 2030 erforderlich. Derzeit sind aber lediglich 91 GW Wind und 100 GW Photovoltaik vorgesehen. Damit kann Deutschland seinen Teil zum Erreichen des 1,5-Grad-Ziels nicht beitragen. Um die Pariser Verträge einzuhalten, muss sich Deutschland ab sofort auf eine nahezu vollständige Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Energien bis 2035 orientieren. Das ist umsetzbar, braucht aber u.a. eine Versechsfachung der heutigen Ausbaugeschwindigkeit von Wind- und Solarkraftwerken.
Strukturelle Hindernisse
Wesentliche Hindernisse für eine schnelle und effiziente Energiewende sehen die Scientists for Future in den rechtlichen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen, denn technisch kann der Energiebedarf Deutschlands bereits mit heutigen Möglichkeiten über Wind-, Solarenergie- und Biomassenutzung sowie durch Geothermie und Umweltwärme vollständig gedeckt werden. „Die heutigen rechtlichen Rahmenbedingungen schränken die technischen Erzeugungs- und Zubaupotenziale signifikant ein und müssen daher schnellstmöglich angepasst werden,“ sagt der Erstautor der Studie, Scientist-Mitglied Christoph Gerhards, und Ko-Autor Peter Klafka ergänzt: „Mit einer Mischung aus Ordnungsrecht und einer wirkungsvollen Bepreisung sowohl von Emissionen als auch von Naturzerstörung kann die Energiewende marktwirtschaftlich und kosteneffizient umgesetzt werden. Ein Warten auf klimaverträgliche Importe ist kontraproduktiv.“
Beispiel Kraft-Wärme-Kopplung KWK: durch die derzeitige Form der Subventionen im KWK-Gesetz werden mit fossilen Brennstoffen betriebene KWK-Anlagen bevorteilt. Insgesamt bewirken die gesetzlichen Regelungen eine Marktverzerrung, welche klimafreundliche, erneuerbare Lösungen gegenüber mit fossilen Brennstoffen betriebenen KWK-Anlagen benachteiligen.
Besondere Bedeutung kommt dem Ausbau der Netze, der Sektorenkopplung, der Marktintegration von Speichern und flexiblen Verbrauchern zu. Der Aus- und Umbau des europäischen Stromnetzes reduziert Speicherbedarf und Kosten erheblich. Als Grundlage einer solchen Reform müssten zuerst auch die hier aktuell bestehenden politischen und rechtlichen Hemmnisse bei der Umgestaltung der Energieversorgung aus dem Weg geräumt werden.
Die Energiewende schafft Arbeitsplätze
Nicht zufällig zum Earth Day 22./23. April lädt US-Präsident Biden vierzig Staats- und Regierungschefs zu einem Weltklimagipfel ein, um ein global wirkendes Investitionsprogramm zur Klimaneutralität aufzulegen. Der Ausbau erneuerbarer Energien ist darin der zentrale Ankerpunkt. Auch ökonomisch, so zeigt die S4F-Studie, ist der Weg zur Nachhaltigkeit sinnvoll. Scientist-Mitglied Urban Weber schätzt die Wirkung so ab: „Durch den bis 2030 notwendigen Zubau an Erzeugungskapazitäten um ca. 300 GW Photovoltaik und ca. 85 GW On- und Offshore-Windkraft kann mit einer Zunahme um mindestens 250 000 Arbeitsplätze allein für Aufbau, Betrieb und Wartung gerechnet werden..“ Dies wird wegfallende Arbeitsplätze in der fossilen Energiebranche mehr als kompensieren. Produktion, Forschung und Entwicklung, sowie indirekte Arbeitsmarkteffekte sind hier noch nicht einbezogen.
Die Energiewende gelingt nur systemisch, betonen die Scientists for Future. In ihren 16 Orientierungspunkten werden daher die Rollen von Energieimporten, Biomasse, Energieeinsparung, Suffizienz, grünem Wasserstoff, Speichern und Stromnetzen in einer klimaverträglichen Energieversorgung ebenso beleuchtet wie die Umgestaltung der Sektoren Mobilität und Wärmeversorgung. Der schnelle Umbau des Energiesystems ist weniger eine technische, sondern eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.
Der volle Text der Studie findet sich hier:
„Klimaverträgliche Energieversorgung für Deutschland – 16 Orientierungspunkte“ – https://doi.org/10.5281/zenodo.4409334
An der Studie haben 29 Wissenschaftler aus unterschiedlichen Fachbereichen mitgearbeitet.
Ansprechpartner
Dr. Christoph Gerhards, email: christoph@gerhards-le.de
Prof. Dr. Urban Weber, email: u.weber@th-bingen.de